Theater Freiburg (D)

Kaspar Häuser Meer

Der Kaspar Hauser von heute heisst Dennis, Chantal, Kevin, oder Jessica. Seine Eltern haben sich in unscheinbaren Wohnungen am Rand unserer Städte und im Sozialgewirr unserer Betreuungsgesellschaft verheddert und den Anschluss verloren. Mit  dem gesellschaftlich vorgegebenen Takt können sie nicht mehr mithalten. Das müssen die Kinder büssen. Sie verhungern, verwahrlosen, werden gequält, erstickt, totgeschüttelt. Die Tageszeitungen melden Tag für Tag das Unfassbare. «Fall Kevin: tödliches Versagen», «Fünf Kinderleichen gefunden», «Nichts deutete auf das Drama hin». Kinder im Keller, im Kühlschrank, in der Tiefkühltruhe. Vermisst werden sie erst, wenn sie tot sind. Und jedes Mal stellt sich reflexhaft die Frage, wer das hätte verhindern können oder müssen? Wo waren die Zuständigen? Falls die Kindeswohlgefährdung nicht eindeutig zu verneinen ist, wird anhand der Fragebögen B und D vor Ort die notwendige Datensammlung zur Einschätzung der Situation des Kindes vorgenommen. Der Leitfaden, aus dem dieser Auszug stammt, soll Sozial-arbeitern als Hilfe bei der Beurteilung von familiären Krisen und deren Behebung dienen.

Die Autorin Felicia Zeller schaute dorthin, wo man zunächst nicht viel Dramatik erwartet. Sie hat sich auf Recherche in den Alltag deutscher Sozialämter begeben und denen, die dort arbeiten, gut zugehört, ihren Wettlauf gegen die Zeit beobachtet. Sie hat erfahren, wie die Absicherungszwänge ihrer Arbeitsabläufe das unausweichliche «zu spät» erzeugen.

Ich gehe immer allen Meldungen nach DARAUF KANNST DU GIFT NEHMEN wegen mir UND DARAUF KANNST DU GIFT NEHMEN soll es keinem Wutz da draussen O DAS LASSE ICH MIR NICHT VORWERFEN dass ich da nachlässig ICH HABE SCHON VIELE KINDER AUS O UNBESCHREIBLICHEN SITUATIONEN HERAUSGEHOLT! Weil, was ist, wenn doch was ist.

Entstanden ist eine wütende Sprachperformance: der Sound der Sozialämter. Gerade ertappt man sich noch dabei, dass man über die atemlosen Sprachattacken und grotesken Rituale der Sozialarbeiterinnen lachen muss, da erwischt es einem plötzlich eiskalt. Ein Stakkato aus Abwehr, Hilflosigkeit und Verzweiflung, aus Satzfetzen von Eltern und Nachbarn und Behördensprech wie: Hat denn schon jemand eine Eingabe gemacht auf Verwaltungsebene?

Felicia Zeller, «die schwäbische Jelinek», gilt als Autorin mit scharfem, unsentimentalem Blick. Mit ihrem Blickwechsel auf die Berufsgruppe Sozialarbeiterinnen ist ihr ohne Entlarvungs-gestus und ohne jeden Betroffenheitsschmu ein packendes Stück gelungen. Keine Täteranalyse, sondern ein Bild einer heillos überforderten Gesellschaft, die keine Kraft mehr hat für den eigenen Nachwuchs.

Text: Felicia Zeller
Regie: Marcus Lobbes
Spiel: Bettina Grahs, Britta Hammelstein, Rebecca Klingenberg
Dramaturgie: Josef Mackert
Bühne und Kostüme: Christoph Ernst
Musik: Udo Selber

ZENTRUM PAUL KLEE Forum
FR 2.5. | 20:00 anschliessend Publikumsgespräch
SA 3.5. | 20:00

Spieldauer: 1h 15 min